Sprechapraxie
(apraxia of speech , pure motor aphasia , verbal dyspraxia , verbal apraxia )
Exkurs: Apraxie als neuropsychologisches Störungsbild
In der allgemeinen neuropsychologischen Diagnostik differenziert man zwischen ideomotorischer und ideatorischer Apraxie.
ideomotorische Apraxie
- häufig, insbesondere in Form einer bukkofazialen Apraxie (etwa 80% aller Aphasiepatienten haben eine bukkofaziale Apraxie);
- Beeinträchtigung in der Auswahl der motorischen Elemente, die eine Bewegung konstituieren und in der korrekten sequentiellen Anordnung dieser Elemente;
- Tritt nur nach Aufforderung oder bei Imitationsaufgaben auf.
ideatorische Apraxie
- selten; (ideatorische Apraxie tritt stets kombiniert mit Aphasie auf; ein ursächlicher Zusammenhang konnte aber bisher nicht nachgewiesen werden)
- Unfähigkeit, eine Situation so zu organisieren, daß logisch aufeinanderfolgende Handlungen ausgeführt werden können, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
- Patienten sind auch im Alltag auffällig
Sprechapraxie
Klinische Definition
"... patients who have a severe and lasting disorder of speech production in the absence of any significant impairment of speech comprehension, reading or writing as well as of any significant paralysis or weakness of the speech musculature" (Lebrun, 1990)
Zur Differenzierung zwischen Aphasie, Sprechapraxie und Dysarthrie
- Aphasie
- Multimodale Störung, d.h. Semantik. Syntax, Morphologie und Phonologie sind (jeweils mehr oder weniger stark) betroffen.
- Dysarthrie
- Die u.a. für das Sprechen zuständigen Nerven und Muskeln sind direkt betroffen d.h. auch bei nichtsprachlichen Aufgaben kann Schwäche, Verlangsamung, Dyskoordination und Tonusveränderung der beteiligten Muskulatur beobachtet werden.
- Sprechapraxie vs. Aphasie
- Sprechapraxie ist eine reine Outputstörung, d.h. nur phonologisch-phonetische Leistungen sind beeinträchtigt.
- Sprechapraxie vs. Dysarthrie
- Die für das Sprechen benötigten Nerven und Muskeln sind bei Sprechapraxie nicht direkt betroffen, d.h. bei nicht-sprachlichen Aufgaben ist keine Beeinträchtigung zu beobachten.
Lokalisation von Schädigungen, die zu Sprechapraxie führen können
Links anterior, im oder um den Gyrus präcentralis (auch Teile des Broca- Areals); Läsionen des linken anterioren Inselkortex.
Linguistische Symptomatik
Störungen auf der segmentalen Ebene
Kategoriale Fehler
-
Substitutionen (Lautersetzungen)
etwas häufiger antizipatorisch als perseveratorisch; Ziellaut und Substitut unterscheiden sich selten in mehr als zwei distinktiven Merkmalen; -
Additionen (Hinzufügungen)
etwas häufiger antizipatorisch als perseveratorisch; - Elisionen (Tilgungen)
- Substitutionen sind sehr viel häufiger als Additionen und Ellisionen;
- Konsonanten sind öfter betroffen als Vokale;
- Anstieg der Fehlerzahl bei Anstieg der Silbenanzahl;
- Fehlerwahrscheinlichkeit ist am Wortanfang höher als wortmedial oder -final;
Lautentstellungen (phonetic distortions)
In den meisten Fällen ist die temporale seltener die räumliche Komponente der Artikulation betroffen, d.h. Laute oder einzelne Phasen von Lauten werden verlängert, wobei die Konfiguration der Artikulatoren korrekt ist. Seltener sind Hyper- oder Hyponasalität und Polyphtongisierungen.
Störungen auf der suprasegmentalen Ebene
Prosodie
Häufig zu beobachten ist silbisches Sprechen:
- mehrsilbige Wörter werden mit intersilbischen Pausen produziert;
- Variation der relativen Prominenz von Silben ist reduziert (isochrone Silben, monotone Akzentuierung)
- keine Reduktion von Vokalen in unbetonten Silben
- unnatürlicher Sprechrhythmus
- zahlreiche Unterbrechungen des Redeflusses
Koartikulation
- stark reduzierte Makrokoartikulation (artikulatorische Interaktion zwischen benachbarten Lauten)
- reduzierte Mikrokoartikulation (Übergangsphasen (Transitionen) zwischen Lauten)
sonstige Symptome
- artikulatorische Suchbewegungen, z.T. phoniert
- starke Sprechanstrengung (häufig verbunden mit mimischen oder gestischen Ersatzhandlungen)
- hohes Fehlerbewußtsein; zahlreiche Selbstkorrekturversuche; trial-and-error
Patientenbeispiel
Die folgenden Audioaufnahmen sind nur für registrierte Benutzer zugänglich.
- Spontansprache [wav, 136 sec]
- Nachsprechen (Nachsprechliste) [wav, 264 sec]
Weiterführende Literatur
Ein Überblick über Erklärungsansätze und Therapieverfahren bis Ende der 1990er Jahre:
- Ballard, Granier & Robin, 2000, Understanding the nature of apraxia of speech: Theory, analysis, and treatment. Aphasiology 14(10), 969-995.
Erklärungsansätze
Reduced buffer capacity hypothesis
- Rogers & Storkel, 1999, Planning speech one syllable at a time: the reduced buffer capacity hypothesis in apraxia of speech. Aphasiology 13(9-11), 793-805.
Representational account
- Dogil & Mayer, 1998, Selective phonlogical impairment: A case of apraxia of speech. Phonology 15, 143-188.
Versuche, die Sprechapraxie in das Levelt'sche Sprachproduktionsmodell einzuordnen:
- Varley & Whiteside, 2001, What is the underlying impairment in acquired apraxia of speech? Aphasiology 15(1), 39-84.
- Schade & Vollmer, 2000, Eine psycholinguistische Fundierung von Sprechapraxie. Neurolinguistik 14(2), 67-84.
- Aichert, I. and Ziegler, W. (2004). Syllable frequency and syllable structure in apraxia of speech. Brain and Language, 88:148–159.
- Staiger, A. and Ziegler, W. (2008). Syllable frequency and syllable structure in the spontaneous speech production of patients with apraxia of speech. Aphasiology, 22(11):1201–1215.
- Ziegler, W., Thelen, A.-K., Staiger, A., and Liepold, M. (2008). The domain of phonetic encoding in apraxia of speech: Which sub-lexical units count? Aphasiology, 22(11):1230–1247.
Grundlagen zum Levelt'sche Sprachproduktionsmodell:
- Levelt, 1989, Speaking.
- Levelt, Roelofs & Meyer, 1999, A theory of lexical access in speech production. Behavioral and Brain Sciences 22, 1-75.
- Cholin, Levelt & Schiller, 2006, Effects of syllable frequency in speech production. Cognition 99, 205-235.
Therapieansätze
Sound Production Treatment
- Wambaugh et al., 1996, A minimal contrast treatment for Apraxia of Speech. Clin Aphasiol 24, 97-108.
- Wambaugh et al., 1999, Sound production treatment for apraxia of speech: overgeneralization and maintenance effects. Aphasiology 13(9-11), 821-837.
- Wambaugh & Nessler, 2004, Modification of sound production treatment for apraxia of speech: Acquisition and generalisation effects. Aphasiology 18(5-7), 407-427.
Prompt/Taktkin
- Square-Storer, P.A. & Hayden, D. 1989, PROMPT treatment. In: Square-Storer, P.A. (Ed.), Aquired apraxia of speech in adults. London: Taylor & Francis, 165-189
- Hayden, D.A. & Square, P.A. (1994). Motor speech treatment hierarchy: A systems approach. Clinical Communication Disorders 4, 162-174.
- Birner-Janusch, B. (2001). Die Anwendung des PROMPT Systems im Deutschen - eine Pilotstudie. Sprache-Stimme-Gehör 25, 174-179.
- Bose et al., 2001, Effects of PROMPT therapy on speech motor function in a person with aphasia and apraxia of speech. Aphasiology 15(8), 767-785.
Metrischer Ansatz
- Ziegler & Jaeger, 1993a, Aufgabenhierarchien in der Sprechapraxie-Therapie und der metrische Übungsansatz. Neurolinguistik 7, 17-29.
- Ziegler & Jaeger, 1993b, Materialien zur Sprechapraxietherapie. EKN - Materialien für die Rehabilitation. Dortmund: Borgmann.
- Jaeger & Ziegler, 1993, Der metrische Übungsansatz in der Sprechapraxiebehandlung. Ein Fallbericht. Neurolinguistik 7, 31-41.
- Brendel, B. & Ziegler, W. (2008). Effectiveness of metrical pacing in the treatment of apraxia of speech. Aphasiology, 22(1):77–102.