Die Dysarthrietypen
Klassifikation in Analogie zur gestörten Gliedmaßenmotorik
Schlaffe Dysarthrie
Die Schädigung folgender Einheiten führt zu einer schlaffen Dysarthrie:
-
Zellkörper der motorischen Neuronen
- in den Hirnnervenkernen (N. Vagus (X), N. trigeminus (V), N.Facialis (VII), N. Glossopharyngeus (IX) und N. Hypoglossus (XII))
- bzw. in den Vorderhörnern der Rückenmarksegmente (unteres Motoneuron). Bei Schädigungen des unteren Motoneurons sind alle Bewegungen beeinträchtigt, also Reflexe, unwillkürliche und willkürliche Bewegungen.
- Axonen dieser motorischen Neuronen
- myoneurale Verbindung
- Sprechmuskulatur
Häufigste Ätiologie solcher Schädigungen: vaskulär, traumatisch, Amyotrophe Lateral Sklerose (ALS).
Hauptmerkmale
- Muskelschwäche (weakness), d.h. ein best. Kontraktionslevel wird nicht erreicht; bei anhaltender Kontraktion kann die `Stärke' der Kontraktion noch zusätzlich abnehmen (progressive weakness), insbes. bei einer Schädigung der myoneuralen Verbindung
- Hypotonie ('Schlaffheit'), d.h. verringerter Muskeltonus und reduzierter Widerstand bei passiver Bewegung
daneben auch
- faszikuläre Zuckungen der betroffenen (schlaffen) Muskulatur; häufig wenn die Zunge betroffen ist
- bei anhaltender Lähmung: Atrophie der betroffenen Muskulatur
Bei Schädigung einzelner Hirnnerven oder Hirnnervenkerne kommt es zu selektiven Beeinträchtigungen bestimmter Muskeln oder Muskelstrukturen (im Versorgungsgebiet des betroffenen Hirnnervs), nicht dagegen zu Beeinträchtigungen ganzer Bewegungsmuster.
- V, Trigeminus
Betrifft die Kiefermuskulatur; bei schwerer bilateraler Schädigung kann der Mund nicht mehr ohne manuelle Hilfe geschlossen werden; unilaterale Schädigungen sind meist nur in Testsituationen zu erkennen. - VII, Facialis
Betroffen ist die gesamte Gesichtsmotorik/Mimik; für das Sprechen relevant: Beeinträchtigung der Lippenmotorik; eine unilaterale Schädigung des Facialis beeinträchtigt das aber Sprechen kaum. - X, Vagus
Einschränkung der Bewegungsfähigkeit von Velum, Pharynx und Larynx; Probleme bei der Steuerung der Nasalität, bei der Phonation, außerdem beim Schlucken; Würgereflex geschwächt bzw. nicht vorhanden. - XII, Hypoglossus
Beeinträchtigung der gesamten Zungenmuskulatur; eine unilaterale Schädigung kann von den Patienten meist relativ schnell kompensiert werden.
Linguistische Symptomatik
- Respiration
- Reduzierte Luftkapazität, eingeschränkte Kontrolle der Ausatmung, dadurch eingeschränkte Lautstärke, kurze Phrasen.
- Phonation
-
Bei unilateraler Lähmung der Stimmlippen (selten): rauhe
(bei Paralyse in adduzierter Position) bzw. behauchte
(bei Paralyse in abduzierter Position) Stimme, reduzierte Lautheit,
Diplophonie
Bilaterale Schädigung des Vagus: Unvollständiges Schließen und Öffnen der Glottis; während der Phonation entweicht sehr viel mehr Luft als bei Gesunden; Unregelmäßige Stimmlippenschwingungen; behauchte Stimme; erhöhte Grundfrequenz mit starker Variabilität; hörbares Einatmen. - Resonanz
- Hypernasalität; Konsonanten (inbes. stimmhafte Plosive) werden durch entsprechende Nasale ersetzt; Luft entweicht durch die Nase, dadurch reduzierter intraoraler Luftdruck, dadurch reduzierte `Schärfe' von oralen Konsonanten; der Grad der Hypernasalität schwankt zwischen relativ mild bei der Produktion von einzelnen Lauten/ Silben/Wörtern bis schwer bei der Äußerung langer Sätze bzw. in der Spontansprache.
- Artikulation
- Schwächung der artikulatorischen Geste: Unvollständige Verschlüsse, ungenügende Verengung bei der Bildung von Frikativen; Lippen können nicht bzw. nicht vollständig gerundet und vorgestülpt werden; in schweren Fällen kann der Unterkiefer nicht mehr angehoben werden, dadurch können selbst Vokale nicht mehr korrekt gebildet werden; bei bilateraler Schädigung des Hypoglossus sind neben sämtlichen Konsonanten, die mit der Zunge gebildet werden, auch hohe Vokale betroffen, die häufig durch mittlere bzw. tiefe Vokale ersetzt werden; die Zunge kann nicht mehr nach vorne, zur Seite oder nach oben bewegt werden, insbesondere ist der Zungenrücken betroffen.
Symptome nach Häufigkeit und Schwere
- Hypernasalität
- unpräzise Konsonantenbildung
- kurze Phrasen
- hörbares Einatmen
- behauchte/rauhe Stimme
- nasale Reibegeräusche
- entstellte Vokale
- langsames Sprechen
- monotone Lautstärke und Tonhöhe
- leise
- tiefe Stimme
- Tonhöhenschwankungen
Patientenbeispiele
Die folgenden Audioaufnahmen sind nur für registrierte Benutzer zugänglich.
Patient A
- Die Sonne scheint... [wav, 130 sec]
- Lautes Lesen (Nordwind und Sonne) [wav, 51 sec]
Patient B mit Pseudobulbärparalyse
- Lautes Lesen [wav, 38 sec]
Bei den vorgelesenen Sätzen handelt es sich um Items aus einer Liste, die an der neurologischen Universitätsklinik Tübingen zur Untersuchung von Lippenbewegungen verwendet wurde. Patientenäußerungen wurden sowohl kinematisch (mit Hilfe des opto-elektronischen ELITE-Verfahrens) als auch akustisch (Koartikulation etc.) analysiert.
Ich habe gepape gelesen.
Ich habe gepupe gelesen.
Ich habe gepipe gelesen.
Ich habe gepappe gelesen.
Ich habe gepuppe gelesen.
Ich habe gepippe gelesen.
Bei der vorliegenden Aufnahme ist besonders interessant, wie die Unterscheidung zwischen gespannten und ungespannten Vokalen realisiert wird.
Patientin C
- *1966
- Subarachnoidalblutung bei Aneurysma der A. cerebri media rechts mit intracerebraler Massenblutung (fronto-temporal) und Blutung in Ventrikel
- Leise behauchte Stimme, hypernasal, reduziertes Sprechtempo und monotone Sprechweise
- Spontansprache [wav, 80 sec]
- Lautes Lesen (Sätze) [wav, 160 sec]
- Lautes Lesen (Text) [wav, 170 sec]
Patient D
- *1992
- Schädel-Hirn-Trauma mit akutem Subduralhämatom bei Verkehrsunfall, traumat. Subarachnoidalblutung
- reduzierte Zwerchfellaktivität, leise Stimme, hypernasal, reduziertes Sprechtempo
- Besonderheit, die nicht in das übliche hypotone Muster passt: Sprechstimmlage erhöht
- Spontansprache [wav, 120 sec]
- Lautes Lesen (Sätze) [wav, 240 sec]
- Lautes Lesen (Text) [wav, 170 sec]
Spastische Dysarthrie
Tritt auf nach Läsionen der korikopontinen und kortikobulbären Bahnen (beidseitig).
Linguistische Symptomatik
- rauhe, zu tiefe Stimme
- sehr langsame Sprechgeschwindigkeit
- reduzierte Betonung
- kurze Phrasen
- behauchte/gepreßte Stimme
- Tonhöhenschwankungen
- gedehnte Laute
- zu leise/leiser werdend
- Lautstärkeschwankungen
- Stimmabbrüche
- Stimmzittern
- artikulatorische Zusammenbrüche
Patientenbeispiele
Die folgenden Audioaufnahmen sind nur für registrierte Benutzer zugänglich.
Patient A
- Nachsprechen 1 (Diadochokinese) [wav, 103 sec]
- Nachsprechen 2 (Wortliste) [wav, 41 sec]
Ataktische Dysarthrie
Tritt auf bei Läsionen der Kleinhirnhemisphären, Multiple Sklerose, Intoxikationen, Kleinhirntumoren.
Linguistische Symptomatik
- monotone Betonung
- unpräzise Konsonantenbildung
- rauhe Stimme
- entstellte Vokale
- gedehnte Laute
- artikulatorische Zusammenbrüche
- verlängerte Pausen
- Lautstärkeschwankungen
- Stimmzittern
- gepreßte, zu tiefe Stimme
- Tempowechsel
Häufig wird das vorherrschende Merkmal bei ataktischen Dysarthrien als skandierendes Sprechen bezeichnet. Der Eindruck des skandierenden (oder silbischen) Sprechens entsteht bei zahlreichen intersilbischen Pausen, Betonung und/oder Längung von unbetonten Silben sowie eingeschränkter Koartikulation an Silbengrenzen. Patientin C ist ein sehr illustratives Beispiel.
Patientenbeispiele
Die folgenden Audioaufnahmen sind nur für registrierte Benutzer zugänglich.
Patientin A, 30 Jahre:
- Spontansprache [wav, 78 sec]
- Lautes Lesen (Testwörter in einem Trägersatz) [wav, 77 sec]
- Nachsprechen (›Diadochokinese) [wav, 49 sec]
Patient B, 64 Jahre, Vater von Patientin A:
- Spontansprache [wav, 19 sec]
- Lautes Lesen (Testwörter in einem Trägersatz) [wav, 60 sec]
- Nachsprechen (›Diadochokinese) [wav, 99 sec]
Patientin C
- *1989
- Schweres SHT mit akutem Subduralhämatom und Hirnkontusionen
- skandierendes Sprechen
- Spontansprache [wav, 150 sec]
- Lautes Lesen (Sätze) [wav, 260 sec]
- Lautes Lesen (Text) [wav, 160 sec]
Dyskinetisch rigide/hypokinetische Dysarthrie
Tritt auf bei Erkrankungen der Stammganglien (Basalganglien), z.B. Morbus Parkinson.
Linguistische Symptomatik
- unpräzise Konsonantenbildung
- monotone Lautstärke und Tonhöhe
- rauhe, zu tiefe Stimme
- stoßartige Phrasen
- inadäquate Pausen
- Tempowechsel
- Temposteigerung
- kurze Phrasen
- Hypernasalität
Patientenbeispiele
siehe Morbus Parkinson
Dyskinetisch hyperkinetische Dysarthrie
Tritt auf bei Erkrankung der Stammganglien (Basalganglien), z.B. Chorea Huntington.
Linguistische Symptomatik
- unpräzise Konsonantenbildung
- zu leise/leiser werdend
- rauhe, zu tiefe Stimme
- stoßartige Phrasen
- inadäquate Pausen
- Tempowechsel
- artikulatorische Zusammenbrüche
- hörbares Einatmen
- Stimmzittern
- Stimmabbrüche
- Temposteigerung
- kurze Phrasen
- Hypernasalität
Patientenbeispiele
Die folgenden Audioaufnahmen sind nur für registrierte Benutzer zugänglich.
Patient mit Chorea Huntington:
- Spontansprache [wav, 33 sec]
- Lautes Lesen (Nordwind und Sonne) [wav, 59 sec]
- Nachsprechen (Diadochokinese) [wav, 23 sec]